Kolumne: Reden ist Silber

Kolumne: Reden ist Silber

Kinder lernen schnell. Zwischen dem ersten gebrabbelten „Mama“ und dem ersten Schimpfwort liegen oft nur ein paar Jahre. Viel zu wenig Zeit für die Eltern, sich auf die verbalen Überraschungen einzustellen, die da auf sie zukommen.

Der Wortschatz der deutschen Sprache umfasst etwa 75.000 Wörter. Ein dreijähriges Kind beherrscht zwischen 500 und 2000 davon. Das reicht ihm vollkommen aus, um damit seine Grundbedürfnisse zu decken („Mama Eis!“), Rechtsansprüche geltend zu machen („Gib das her!“) sowie aktiv an der Gestaltung des Familienlebens teilzunehmen („Nö. Zu Oma Gundi fahr' ich nicht.“). Außerdem hat es noch genügend Wörter übrig, um damit ein bisschen herumzuexperimentieren. Kinder begreifen ja verblüffend schnell, was für eine geheimnisvolle Schlagkraft hinter ein paar aneinandergereihten Buchstaben steckt.

Anfangs sind es Zufallstreffer. Da sitzen wir auf den Stufen bei „Eiszeit“ am Mühlenkamp, als sich ein Mann mit drei schwarzen Punkten am Arm, einer dunklen Brille und einem Taststock in der Hand langsam auf dem Bürgersteig nähert. Mats wartet, bis der Mann genau auf unserer Höhe ist, um dann begeistert zu rufen: „Guck mal Mama, ein Blindgänger!“ Das Wort kennt er von seinem Bruder, die Reaktion seiner Mutter ist ihm neu. Wieso macht die jetzt so ein komisches Gesicht? Warum starrt die wie versteinert in ihren Kaffeebecher, als gäbe es da irgendwas Spannendes zu sehen? Irgendetwas war passiert, bloß was?

Gesund entwickelte Kinder wollen der Sache natürlich auf den Grund gehen und bedienen sich dazu breit angelegter, linguistischer Testreihen. Die Tochter einer Freundin hat sich beispielsweise angewöhnt, immer wenn ihre Mutter mit jemandem auf der Straße spricht, laut zu fragen: „Wer ist das?“. Dabei ist es ihr piepegal, ob sie die Personen kennt oder nicht. In beiden Fällen wird Mama nervös. Entweder, weil sie es peinlich findet, dass ihre Tochter die nette Nachbarin von unten, die sich nicht mal nach dem letzten Kindergeburtstag beschwert hat, jetzt auch noch wie eine Fremde behandelt. Oder weil Mama ein sauschlechtes Namensgedächtnis hat und selbst nicht genau weiß, ob die Spielplatzbekanntschaft, mit der sie gerade redet, jetzt Sabine, Silke oder Sandra heißt.

Die kleinen Sprachforscher werden langsam größer und begreifen, dass Publikum erheblichen Einfluss auf die Reaktionen ihrer Eltern hat. Darum bevorzugen sie voll besetzte Busse oder Wartezimmer, um Dinge zu sagen wie: „Ist die Frau neben dir 1000 Jahre alt?“ oder „Mama, weißt du noch, als ich bei „Hagenbeck“ an der Kasse sagen sollte, dass ich erst drei bin, obwohl das gar nicht stimmt?“. Irgend jemand grinst garantiert. Meistens nicht die Eltern, denn die sind im Geiste gerade dabei, sich an Zeiten zu erinnern, als sie noch keine Kinder hatten. War ja auch nicht alles schlecht, damals. Sollte jemand in der Leserschaft sein, der die Grundsatzfrage „Kinder – ja oder nein?“ noch nicht endgültig beantwortet hat, den kann ich beruhigen: Die Sprachentwicklung des eigenen Nachwuchses treibt auch wunderschöne Blüten. Ohne meine Kinder hätte ich zum Beispiel nie gewusst, was eine „Sauberin“ ist (die Reinigungskraft im Kindergarten). Ich hätte nicht über die wichtige Frage nachgedacht, ob sich ein Fahrkartenkontrolleur vor Arbeitsbeginn eine Fahrkarte kaufen muss oder woher der Name der Krankheit Rheuma stammt („Mama, ich weiß! Das kommt von ´Räum ma dein Zimmer auf´“). Und fairerweise muss ich zugeben, dass viele der Fettnäpfchen, in die man von seinen Kindern geschubst wird, selbst verschuldet sind. Zum Beispiel die Sache mit dem pädagogisch konservativen aber immer noch aktuellen Warnhinweis „Nur wenn du in der Schule gut aufpasst, kriegst du später einen anständigen Job.“ Da darf man sich natürlich nicht wundern, wenn der Sechsjährige fragt, ob man eigentlich gut in der Schule sein muss, um Kellnerin zu werden. Vielleicht hätte er damit warten können, bis die Kellnerin, die uns gerade das Essen serviert, außer Hörweite ist, aber das kann man von einem Kind eben auch nicht erwarten.

Man kann höchstens versuchen, sich selbst an ein paar Regeln zu halten, sobald jemand unter 1,50 m Körpergröße in der Nähe ist: 1. Beiläufig zum Partner gesagte Sätze wie: „Wusstest du schon, Timo hat was mit seiner Sekretärin“ oder „Ich glaub’, die Wuppke trinkt“ werden vom Kind gehört. Immer! Auch wenn es gerade in seinem Zimmer eine Ritterschlacht mit Playmobil nachspielt, im Autorücksitz schläft oder auf Klassenfahrt ist. 2. Buchstabieren als elterliche Geheimsprache funktioniert nur kurz und bringt Horden von früh entwickelten Kleinstlesern hervor, die alle später in der Schule unterfordert sind und den Unterricht stören. 3. Schimpfwörter vermeiden nützt auch nichts. Pupsnase, Kacka-Oma oder Doof-Arschi sind genetisch notwendige Stationen in der verbalen Entwicklung des Kindes. Sie kommen so sicher wie die Schnecken ins Gemüsebeet. Auch, oder vielleicht gerade wenn wir so nie reden und gar nicht wissen, wo er das nun wieder her hat.

Aus glaubhaften Erzählungen von Eltern pubertierender Kinder weiß ich außerdem, dass man die jetzige Phase genießen soll. Besser wird’s nicht. Aus Kindersicht sieht die Sache ja sowieso ganz anders aus: Erst sollen die Kleinen so früh wie möglich sprechen lernen, dann sollen sie so schnell wie möglich wieder damit aufhören. Also ehrlich, manchmal wissen Eltern auch nicht, was sie wollen.

Unsere Kolumnistin: Birte Kaiser (43) ist freie Journalistin. Bis zur Geburt ihres ersten Sohnes hat sie fest für die „Für Sie“ gearbeitet. Jetzt schreibt sie regelmäßig als freie Mitarbeiterin für diverse Frauenzeitschriften und für ALSTERKIND. Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Söhnen Hannes (9) und Mats (6) in Winterhude. www.birtekaiser.de

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