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Bewegt Euch, Kinder! Stubenhocker damals und heute
Foto: privat
Früher waren die Sommer schöner, die Kindheit aufregender und wir selbst ständig in Bewegung. Echt jetzt? Birte Kaiser über verklärte Rückblicke und die digitalisierte Jugend von heute.
Wer wie ich in einer Kleinstadt in der Wesermarsch aufgewachsen ist, weiß, wie man Monotonie buchstabiert. Man musste sich als Kind schon was einfallen lassen, um nicht vor Langweile vom Deich zu kippen, auf den unsere Eltern uns jeden Sonntag zum Spazierengehen scheuchten. Wenn sie außer Hörweite waren, legten wir uns ausgestreckt ins Gras und kullerten in Richtung Watt. Wer zuerst unten war, hatte gewonnen. Das klingt jetzt nach einem dieser weichgezeichneten Werbespots, in dem die Kleinen lachend in der Sonne toben und dafür von ihrer ebenfalls lachenden Mutter eine Milchschnitte bekommen. Die meisten von uns bekamen von ihrer überhaupt nicht lachenden Mutter höchstens eine gelangt, weil der Deich vom Dauerregen matschig und voller Schafkacke war.
Psychologen betonen ja immer wieder, wie wichtig Langweile für die Kindesentwicklung sei, aber unsere Eltern sahen das anders. Wenn wir drinnen zu laut waren, schickten sie uns nach draußen und wollten bis zum Abendbrot keinen Mucks mehr von uns hören. Also vertrieben wir uns die Zeit mit der Herstellung von Steinschleudern, dachten uns Mutproben aus, die immer mit Giftpilzen oder Stromzäunen zu tun hatten, und banden Schnüre an unsere Fahrradlenker, um damit Pferd zu spielen. Im Rückblick ist es ein Wunder, dass überhaupt so viele von uns das Erwachsenenalter erreicht haben.
Ich weiß nicht, was die Kinder in der Wesermarsch heute so machen. Ich war schon lange nicht mehr da und wohne seit Jahren in der Stadt. Hier kommt die Kacke nicht vom Schaf, sondern vom Hund, und sie liegt im Grünstreifen neben dem Bürgersteig. Großstadtkinder lernen früh, dass Rasenflächen tückisch sind wie Treibsand. Die eingezäunten Spielplätze, die ich früher als „Kinderknast“ bezeichnet hatte, empfand ich später als Müttererholungsort. Hier konnten meine Jungs gefahrlos durchs Gebüsch kriechen und Stöcke sammeln. Außerdem konnten sie nicht abhauen, sobald ich mal eine Millisekunde abgelenkt war. Darin waren sie groß. Meistens fand ich sie oben auf Bäumen oder Straßenlaternen wieder und musste mir von Fremden sagen lassen, dass ich eine verantwortungslose Mutter sei.
Dabei hatte ich gelesen, dass Kinder sich heute angeblich nicht mehr bewegen, dass sie faul und verkümmert wären und nur noch ihre Daumen richtig benutzen könnten. Vielleicht gibt es diese Kinder. Genau wie es damals Michael Kötter gegeben hat, den Sohn des Mercedeshändlers, der schon in der vierten Klasse aussah wie Reiner Calmund. Oder Dörte Liebknecht, die immer Schulbrote ohne Rinde hatte und beim Gummitwist höchstens mal als Gummihalterin eingesetzt wurde. Das waren eben die Stubenhocker, die Malen nach Zahlen besser fanden, als Cowboy und Indianer.
Die meisten Kinder, die ich heute kenne, lieben Bewegung. Ihre Mütter brachten sie tapfer zu allen möglichen Pampers-Gymnastikkursen und sangen „Alle Leut‘, alle Leut" bis ihnen die Ohren bluteten. Ich sehe Pausenhöfe, die voll sind von herumwuselnden fussball- und tickenspielenden Schülern, ich kenne Wartelisten für Sportkurse, die länger sind als das Alte Testament.
Und ja, auch das stimmt: Ich kenne kaum Fünftklässler, die kein Handy besitzen. Genau wie deren Eltern. Und genau wie die, benutzen die Kinder das Ding am Esstisch, beim Überqueren einer Straße oder abends im Bett, wenn ihnen niemand vorlebt, wie man sinnvoll damit umgeht.
Dabei wissen wir Großen doch selbst am besten, dass Bildschirme jeder Art schlimme Zeitfresser sind. Und wir haben ein Mittel, mit dem wir unsere Kinder davor schützen können, vollständig in der digitalen Welt zu versinken. Es heißt „nein“. Vier kleine Buchstaben, etwas angestaubt und aus der Mode gekommen, aber sehr effektiv. „Nein, du darfst nicht solange am Computer spielen, wie du willst!“, „Nein, eine Flatrate kommt nicht in Frage!“, „Nein, die Kindersicherung bleibt drin!" Das Wort ist anstrengend und passt nicht zu dem coolen Elternverständnis, das wir heute haben. Man muss es ständig wiederholen, macht sich unbeliebt und muss das anschließende Dauergenöle aushalten. Aber vielleicht ist genau das der große Unterschied zwischen früher und heute. Nein sagen fiel unseren Eltern nicht schwer. Es ging ihnen genauso so leicht über die Lippen, wie ein Gutenachtkuss. Wenn sie etwas nicht wollten, wurde es verboten, kurz und knapp und konsequent. War ja auch nicht alles schlecht, damals.
Birte Kaiser (48) lebt mit ihrem Mann und den Söhnen Hannes (15) und Mats (12) in Hamburg. Sie arbeitet als freie Journalistin und Kolumnistin für unterschiedliche Zeitschriften. Außerdem ist sie als Einrichtungsberaterin unterwegs und hilft ihren Kunden, frischen Wind in die eigenen vier Wände zu bringen. Mehr dazu unter
www.hausnummerzehn.com.