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Kolumne: Sein erster Schultag!
Der erste Schultag steht uns Eltern bevor wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. „Muss ja sein“, denken wir tapfer und beneiden heimlich unsere Kinder, die es kaum abwarten können und überhaupt nicht verstehen, warum Mama und Papa dauernd Taschentücher brauchen.
„Natürlich können Sie auch ein billigeres Modell nehmen … “, sagt die Verkäuferin, die vorhin noch so freundlich war. „ … wenn Sie möchten, dass Ihr Sohn mit vierzehn den ersten Bandscheibenvorfall hat.“ Vorhin, das war vor zehn Minuten, als wir in den Laden kamen und einen Schulranzen kaufen wollten. Ich hatte ja keine Ahnung, dass man dafür inzwischen eine technische Einweisung braucht. Es war irgendwie an mir vorbei gegangen, dass Ranzen in den letzten Jahren zu komplizierten Hochleistungsgeräten mutiert sind, die offenbar ähnlich individuell angepasst werden müssen, wie orthopädische Einlagen. Genauso überrascht war ich, als ich heimlich auf die Preisschilder schielte. Alle Achtung! Rein finanziell gesehen, würde unser Sohn demnächst den Gegenwert eines gebrauchten Kleinwagens zur Schule tragen. Damit hatten wohl auch Oma und Opa nicht gerechnet, als sie sich leichtfertig anboten, den Schulranzen für ihren Enkel zu bezahlen. Woher auch? Der letzte Kauf dieser Art war 1977, seitdem ist der Markt komplexer geworden.
Heute unterscheidet man zum Beispiel zwischen „Sondereditionen in limitierter Auflage“, „Exklusiv-Sets“ und den etwas abfällig präsentierten „Vorjahresmodellen“. Der erziehungsberechtigte Laie kann da eigentlich kaum einen Unterschied erkennen. Für ihn sehen alle Mädchenmodelle aus wie die Kitschposter aus den 80er Jahren, mit Einhörnern im Mondschein, springenden Delfinen und glitzernden Regenbogen. Für Jungs stehen halbversunkene Piratenschiffe, protzige Rennautos oder Fußballmotive zur Auswahl. „Gibt’s die auch in schön?“, will mein Mann wissen als wir langsam die Reihen der Ranzen sichten, und ich bin nur froh, dass die Verkäuferin gerade dabei ist, anderen Kunden die Sache mit dem Bandscheibenvorfall zu erklären.
Unserem Sohn ist das alles piepegal. Für ihn kommt der Kauf des Schulranzens einem Ritterschlag gleich, die lang ersehnte Aufnahme in den Geheimbund der ABC-Schützen, ein sichtbares Symbol seines fortgeschrittenen Alters und seiner Weisheit. Bis zur Einschulung wird er das Ding nur noch zum Schlafen ablegen.
Rückblickend bin ich ganz dankbar für diese Phase. So hatte ich wenigstens Zeit, mich an den Anblick zu gewöhnen. Das eigene Kind plötzlich mit einem Ranzen auf dem Rücken zu sehen, trifft Eltern ja meist wie ein Schlag in die Magengrube. Erinnerungen an unsympathische Sportlehrer und nie begriffene Mathegleichungen kommen hoch. Der Geschmack von Teewurst und Tinte ist plötzlich wieder präsent und ich weiß noch, wie wir versucht haben, uns mit einem angespitzten Bleistift zu tätowieren. Drei Punkte auf den Handrücken, so wie der Papa von Holger welche hatte. Mir fällt sogar der erste Schultag wieder ein. Die neonfarbene Schulanfänger-Mütze und die kratzigen OP-grünen Papiertücher für Sybille, die vor Aufregung immer Nasenbluten bekam.
Und dann steh’ ich auf einmal selbst wieder in der Aula, stecke unserem Sohn das Unterhemd in die Hose und wische ihm Zahnpastareste von der Wange. Der Schulchor singt „Alle Kinder lernen lesen“ und ich streite mich mit meinem Mann um die letzte Packung „Tempo“. Und dann ist es soweit: Die Kinder marschieren im Gänsemarsch hinter ihrer Klassenlehrerin her in ein neues Leben. Einhörner, Delphine und Piratenschiffe verschwinden aus unserem Blickfeld und wir bleiben ein bisschen verloren zurück.
Zeit, die Wimperntusche zu erneuern, das Film- und Fotoequipment zu sortieren und dann die Kinder auch schon wieder in Empfang zu nehmen. Etwa zwanzig Minuten hat der erste Schultag gedauert, aber sie werden begrüßt wie Kriegsheimkehrer und mit Fragen überschüttet. Befriedigende Antworten kriegen nur die wenigsten Eltern – ein Zustand, der sich nach meiner Erfahrung auch in den nächsten Jahren nicht ändern wird.
Bei uns ist der Ranzen inzwischen zu einer mobilen Müllhalde verkommen, der hauptsächlich zum Transport von Steinen, Stöcken oder Sammelbildern verwendet wird. Der dazugehörige Turnbeutel ist verloren gegangen, die Federtasche nicht mehr vollständig und Schule längst zu einem festen Bestandteil unseres Lebens geworden. Neulich fragte unser Sohn, ob er demnächst vielleicht mal einen Rucksack haben kann. Ist irgendwie cooler als ein Ranzen, sagen die Jungs aus der Dritten. Den trägt man dann auch nur noch mit einem Träger ganz lässig über die Schulter gehängt, bloß nicht gerade auf dem Rücken. Also wenn das die Verkäuferin aus dem Ranzen-Geschäft sieht, die kriegt glatt ’nen Bandscheibenvorfall.
Unsere Kolumnistin: Birte Kaiser (43) ist freie Journalistin. Bis zur Geburt ihres ersten Sohnes hat sie fest für die „Für Sie“ gearbeitet. Jetzt schreibt sie regelmäßig als freie Mitarbeiterin für diverse Frauenzeitschriften und für ALSTERKIND. Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Söhnen Hannes (9) und Mats (6) in Winterhude. www.birtekaiser.de